Cover
Titel
Das neue Filmlexikon 2006.


Herausgeber
N. N.
Erschienen
Düsseldorf 2004: Systhema Verlag
Anzahl Seiten
1 DVD
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Walter, Fakultät für Geschichtswissenschaft - Alte Geschichte -, Universität Bielefeld

Spätestens seit die Erhebung, Analyse und Dekonstruktion von Geschichtsbildern fast ebenso wichtig geworden sind wie die Rekonstruktion der ‚tatsächlichen’ Geschichte, befassen sich Historiker unter den verschiedensten Fragestellungen auch mit dem Spielfilm. Eine renommierte Zeitschriften wie die ‚American Historical Review’ lässt seit vielen Jahren neben Büchern auch Filme historisch relevanten Inhalts von ausgewiesenen Kennern der jeweiligen Epoche besprechen. Während die Geschichte dieses Leitmediums des 20. Jahrhundert unter technischen und ästhetischen Gesichtspunkten vorwiegend von Filmhistoriker/innen mit ihren eigenen Ressourcen, Forschungsinstitutionen und Publikationsorganen traktiert wird, verfolgen Allgemeinhistoriker/innen der Moderne sowie Historiker/innen früherer Epochen, die Gegenstand des Historienfilms im weitesten Sinne waren und sind, teilweise andere Interessen.

Eine unverzichtbare Grundlage jeder Arbeit zum Thema Spielfilm stellt eine möglichst vollständige und aktuelle Datenbank mit allen je im Kino oder Fernsehen gezeigten Filmen sowie den beteiligten Personen dar. Solche Datenbanken gibt es selbstverständlich im Internet 1, doch für eine systematische Erschließung ist womöglich eine CD/DVD-ROM geeigneter, zumal wenn die herausgebende Institution ausgewiesene Kompetenz besitzt.

Das anzuzeigende Produkt verärgert zunächst durch einen Mangel an Transparenz. Das beginnt schon mit dem Untertitel, der wohl zuvörderst einen an Edutainment gewöhnten Käuferkreis ansprechen soll: „Die ganze Welt des Films“ stimmt schon deshalb nicht, weil die Scheibe keine Sach-2 und Länderartikel bietet; sie gibt ausschließlich Auskunft über Filme und Personen. „Trailer, Kritiken, Bilder“ führt insofern in die Irre, als diese drei Ingredienzien am wenigsten durch Systematik hervorstechen. Die Trailer erscheinen ganz zufällig und nach Verfügbarkeit zusammengestellt, ebenso die Bilder (angeblich 8.000, in unterschiedlicher Qualität). Kritiken finden sich zu vielen Filmen, doch aus ganz unterschiedlichen und nirgendwo zusammengestellten Quellen, mal anonym, mal mit Quellenangabe, mal plakativ-journalistisch, mal seriös und differenziert, meist aber eher kurz.

Unklar ist beim ersten Hinschauen, ob der Kernbestand des Datenmaterials, also Filmdaten, Credits und Inhaltsangaben, auf dem ebenfalls unter dem Label ‚Systema’ vertriebenen „Lexikon des internationalen Films“ beruht, das vom „Katholischen Institut für Medieninformation“ und der „Katholischen Filmkommission für Deutschland“ herausgegeben wurde. Dessen Kern wiederum bildete eine Loseblattsammlung mit ausführlichen Kritiken aus einer klaren christlich-wertbestimmten Sicht heraus („Wir raten ab!“) sowie nützliche Handbücher für jeweils mehrere Jahre mit den wichtigsten Angaben zu jedem Film und Kurzkritiken. Eine Buchausgabe der Sammelbände in zehn Bänden erschien erstmals 1987 als Taschenbuch bei Rowohlt, seitdem jedes Jahr ergänzt durch einen Ergänzungsband. Die bisher letzte gedruckte Fassung des Gesamtwerks erschien 2002 in drei stattlichen Dünndruckbänden bei Zweitausendeins; neben Einträgen zu rund 52.000 Filmen bietet diese Ausgabe etwa 130 filmhistorische und -kritische Essays. Diese stammen aus der zweiwöchentlich erscheinenden Zeitschrift „Filmdienst“ (seit 1951), wo auch die ausführlichen Kritiken aller aktuellen Filme zu finden sind, verbunden mit zahlreichen filmästhetischen und -historischen Artikeln. Das gesamte Material einschließlich der ausführlichen Kritiken ist auch im WWW zugänglich (kostenfrei für Abonnenten der Zeitschrift). Das „Lexikon des internationalen Films“ war seit 1997 auch auf CD-ROM verfügbar. Jährlich aktualisiert und um Ausschnitte aus klassischen Filmen, Schwerpunktthemen wie ‚Western’ und ‚Science Fiction’, Biografien und Artikel bereichert sowie durch eine Freitextsuche erschlossen, waren diese Silberlinge – der letzte erschien meines Wissens 2001 – für gelegentliche Benutzung wie für seriöse Recherche unentbehrlich.

Dieser Exkurs war notwendig, weil der Eindruck entstehen könnte, das neue Lexikon baue auf dem genannten Qualitätsprodukt auf.3 Leider trifft das offenbar nicht oder nur zum geringen Teil zu. Geprunkt wird zwar mit 166.986 Filmeinträgen und sogar deren 349.650 im Personenlexikon. Doch diese Zahlen resultieren aus zahlreichen Original- und Alternativtiteln sowie Dubletten. Tatsächlich sind etwa 75.000 Filme aufgelistet. Doch schon eine kurze Recherche zeigt, dass die Scheibe nur mit Vorsicht zu benutzen ist. So finden sich für den Filmklassiker ‚Intolerance’ von 1916 gleich fünf Einträge, die sich beim Anklicken auf zwei reduzieren. Der eine bietet eine kurze Besetzungsliste und eine knappe, wenig aussagekräftige Beschreibung, der andere ausführliche Credits und längere Ausführungen unter anderem zu den verschiedenen Schnittversionen des Filmes. In beiden Einträgen hat der Film vier Regisseure, nämlich D.W. Griffith, David Ward Griffith, David Wark Griffith und Gaston de Tolignac – letzteres ein Pseudonym für den hier verdreifachten Griffith. In drei ‚Terminator’-Filmen spielen jeweils zwei Darsteller die Hauptrolle: Arnold Schwarzenegger und Arnold Strong. Das war das Pseudonym, das Schwarzenegger bei seinen ersten Gehversuchen in den USA benutzte; als Angabe zu seinen späteren Filmen führt es in die Irre. Auch Kaiser Commodus in ‚Gladiator’ (2000) hat zwei Darsteller: Leaf Phoenix und Joaquin Phoenix (Zwillingsbrüder mit Jobsharing?). Die Reihenfolge der Darstellernennung folgt keinem erkennbaren Prinzip. Vor allem zu älteren Filmen finden sich oft nur sehr sparsame oder gar keine Informationen. Über ‚Die Akte Odessa’, der 1974 für einiges Aufsehen sorgte, erfährt man lediglich: „Mit Hilfe des israelischen Geheimdienstes entlarvt ein Journalist zusammen mit früheren KZ-Häftlingen eine Organisation ehemaliger SS-Angehöriger.“ Zu Anthony Manns ‚Der Untergang des Römischen Reiches’ von 1964, einem höchst beachtlichen Spätling, dessen Scheitern an der Kinokasse das Ende der ‚großen’ Antikfilme besiegelte, erfährt man gar nichts. Dafür wird man zur Verfilmung von Madame Bovary von 1990 darüber ins Bild gesetzt, dass Gustave Flaubert das Drehbuch geschrieben hat. Ein Jammer, dass dieses Drehbuch erst 110 Jahre nach Flauberts Tod aus der Schublade gezogen wurde. Das Buch zu ‚Stella’ (1967) schrieben Goethe (play), Helmut Käutner und Johann Wolfgang von Goethe (play). Auch zur Verfilmung des ‚Faust’ (entstanden 1988-1988) schrieb Goethe das Drehbuch. Programmierung und Verlinkung produzieren mehr als einmal die blanke Desorientierung, und man vertraut bald keiner Angabe mehr. Schlichte Fehler und mangelnde Aktualität kommen hinzu; so wird der im August 2004 verstorbene Filmkomponist Elmer Bernstein hier noch als lebend geführt, ebenso der im Mai 2004 verstorbene Carl Raddatz. Die Sterbedaten von Marlon Brando und Janet Leigh sind falsch aus dem amerikanischen Datumsformat übernommen (07.01. statt 01.07 bzw. 10.03. statt 03.10).

Die Scheibe läuft unter Windows (ab Version 98); Installation und Bedienung sind problemlos. Die Suchfunktion ist mit zahlreichen mehr oder minder nützlichen Filtern versehen, die sich auch kombinieren lassen. So lassen sich gezielt Filme eines Genres zusammenstellen. Unter den so genannten Hauptgenres finden sich ‚Abenteuer und Historie’, ‚Anspruch’ (!), ‚Arzt/Krankheit’, ‚Dokumentation und Sachthemen’, ‚Politik und Krieg’, aber auch eine in die 1960er-Jahre verweisende Kategorie wie ‚Sex- und Milieufilm’. In den sehr viel zahlreicher ausgewiesenen Untergenres – eine Hierarchisierung ist nicht erkennbar, es gibt auch hier Überschneidungen und Doppelungen – finden sich immerhin Kategorien wie ‚Arbeiterfilm’, ‚Biographie/Autobiographie’, ‚Historienfilm, Kostüm- und Ausstattungsfilm’, ‚Religion, Glaube, Bibelfilm’ oder ‚Stalinismus, Rassismus, Faschismus, und Antifaschismus’, aber auch ganz anders gelagerte und schwammige Kategorien wie ‚Klassiker’ oder ‚Kultfilm’. Diese Funktion erlaubt es immerhin, sich einen ersten Materialüberblick zu verschaffen, und kann auch Historiker/innen nützlich sein, die etwa das Mittelalter im Film oder das Bild des amerikanischen Präsidenten im Kino untersuchen möchten. Eine Volltextsuche gibt es nicht.

Insgesamt aber fällt der Gesamteindruck für diese erste Version wegen der zahlreichen Fehler und irreführenden Angaben, der ungleichmäßigen und oft wie zufällig ausgewählten Informationen sowie des Mangels an Transparenz leider sehr ungünstig aus. Eine gründliche Überarbeitung sollte bald erfolgen.

Anmerkungen:
1 Etwa die sehr umfangreiche „Movie Database“: <http://www.imdb.com/>.
2 Dafür siehe jetzt: Thomas Koebner, Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002.
3 Der als Mitherausgeber genannte Lothar R. Just gibt seit 1979 die renommierte Jahrbuchreihe „Das Filmjahr“ heraus (seit 1987 als Heyne-Tb.); die Zeitschrift ‚Cinema’ kann als die bekannteste deutsche Filmzeitschrift gelten und unter den für den Massenmarkt bestimmten Produkten als die seriöseste. Leider wird nicht angegeben, wie und in welchem Unfang Material aus diesen beiden Quellen bezogen wurde. Einer Pressemitteilung (<http://www.focus-magazin-verlag.de/PF4/PF4D/PF4DP/pf4dp.htm?nav=57&snr=1310271027 [23.4.2006]>) ist zu entnehmen, dass das Lexikon von Cinema und USM gemeinsam entwickelt wurde.

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